Christian Spuck hat schon mehrfach Stoffe von E.T.A. Hoffmann inszeniert. Dieses Mal greift er zur populärsten Vorlage und beschert dem Zuschauer viele Rätsel
Von Hartmut Regitz
Es könnte die Werkstatt von Dr. Coppélius sein, ein aufgelassenes Revuetheater, ein überaus geräumiges Wohnzimmer voll versteckter Schubladen, Schaukästen und Bodenluken. Oder einfach ein Ort der Einbildungskraft, den wenig später ein gewisser Drosselmeier kraft seiner Elektrozigarette unter Dampf setzt. Was auch immer sich Christian Spuck und sein Bühnenbildner Rufus Didwiszus für das Opernhaus Zürich ausgedacht haben: es ist ein Ort, unergründlich genug, vielschichtig und dabei so verschattet, dass man sich darin tatsächlich gut eine nachtschwarze Spukgeschichte von E. T. A. Hoffmann vorstellen kann.
Eine «harte Nuss»
Denn genau darum geht es, sobald sich nach dem Vorspiel auf dem Theater der Vorhang endlich gehoben hat: um Hoffmanns 1816 erschienene Erzählung «Nussknacker und Mausekönig», die der Zürcher Ballettdirektor so originalgetreu wie möglich auf die Bühne zurückholen will.
Was gar nicht so einfach ist, schließlich hat Marius Petipa seinerzeit bei seiner Ballettfassung auf eine Nacherzählung von Alexandre Dumas zurückgegriffen statt E. T. A. Hoffmann selbst beim Wort zu nehmen. Anders gesagt: Er hat die literarische Vorlage so abgespeckt, dass zwar immer noch genügend Fantasie-Futter für den Komponisten Peter Tschaikowsky übrig geblieben ist, nicht aber das, was besorgte Eltern vielleicht verstörend, zweideutig, ja nachgerade skandalös empfunden hätten – und somit ungeeignet für kindliche Zuschaueraugen. Vor allem das mehrfach eingeschobene «Märchen von der harten Nuss» fiel anno 1892 der librettistischen Bereinigung zum Opfer, weil seine ambivalenten Auswüchse und bizarren Begegnungen so gar nicht in den Kontext eines familienkonformen Events zu passen schienen. Die sind zwar auch in Zürich allenfalls zu ahnen, aber weil Christian Spuck die «harte Nuss» wieder in das zweiaktige Ballett hereinholt, kann er zumindest mit den Handlungsebenenso sinnverwirrend spielen, dass einem dabei schwindlig werden kann. Wer, so fragt man sich, ist dieser gelangweilte Junge im graugemusterten Pullover, der gleich zu Beginn auf die Bühne schlendert, aber wenig später scheinbar auf Nimmerwiedersehen hinter einem Vorhang verschwindet? William Moore verkörpert ihn wie eine verjüngte Ausgabe von E. T. A. Hoffmann, halb an Harry Potter, halb an Berlins Ballettchef Nacho Duato erinnernd. Obwohl sich der Knabe eher zufällig in das Ballett verirrt zu haben scheint, taucht er darin immer wieder auf, erst als Prinz, dann als verholzter Nussknacker.
Nussknacker und Mausekönig – Ballett Zürich / Junior Balletts
Foto: Gregory Batardon
Wer ist, bitteschön, dieser Drosselmeier, der sich hier als sein Onkel ausgibt und offenbar dem Theater nichts anderes als Raucher-Atem einhaucht? Den Körper gerundet, den Zylinder auf dem ergrauten Kopf, den Rücken dem Publikum zugewandt, könnte diese Figur einem Ballett Marco Goeckes entstammen. Doch dann entwickelt Dominik Slavkovsky tanzend ein höchst skurriles Eigenleben, bei dem nicht bloß die Rockschöße fliegen. Auch seine Finger entwickeln ein bisweilen befremdliches Eigenleben. Und wer ist, eine letzte Frage, in Wirklichkeit die kleine Marie, die sich hier so in die Prinzessin Pirlipat verguckt? Michelle Willems wird am Schluss von Buki Shiff so kostümiert, als wäre sie nicht die Hauptfigur, sondern bloß eine Doppelgängerin von Pirlipat und damit ein Teil des «Märchens von der harten Nuss». Fragen über Fragen, an deren Beantwortung sich nicht nur ein Nussknacker die Zähne ausbeißen kann. Mit Michael Küster und Claus Spahn beschäftigt Christian Spuck diesmal gleich zwei Dramaturgen.
Nussknacker und Mausekönig – Ballett Zürich / Junior Balletts
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Wie stimmig ist das Ballett?
Doch nach «Der Sandmann» und «Das Fräulein von S.» bringt Spuck in die Inszenierung genug Erfahrung ein, um das Abartige und Hintergründige E. T. A. Hoffmanns in den Griff zu bekommen. Zwar muss er manchmal die Musik gehörig durcheinander wirbeln, um den Ver-rücktheiten der Vorlage auch choreografisch zu entsprechen. Aber nur so wird das Ballett dem literarischen Anspruch gerecht, wie es sein Titel «Nussknacker und Mausekönig» verspricht – was als Alternative einer bisweilen geradezu kindischen Aufführungspraxis einiges für sich hat, selbst wenn der große Erzählbogen dabei manchmal in die Brüche geht. Was wirklich fehlt, ist das wahrhaft Weihnachtliche, das E. T. A. Hoffmann seiner Geschichte bewusst als Rahmen gegeben hat. Eine Erwartungshaltung, die sich auch choreografisch erst einmal aufbauen muss, um die Bescherung zu dem Ereignis zu machen, das Marie bis in ihre tiefsten Träume hinein verfolgt.
Nussknacker und Mausekönig – Ballett Zürich / Junior Balletts
Foto: Gregory Batardon
Wahrscheinlich wäre es deshalb stimmiger gewesen, sich doch auf die überlieferte Musik folge zu verlassen, anstatt sie korrigieren zu wollen – und das «Märchen von der harten Nuss» im übrigen einem zeitgenössischen Komponisten anzuvertrauen, der Tschaikowskys Original klanglich bis zur Kenntlichkeit verfremdet und dabei das Albtraumhafte der doppelten Geschichte zumindest angedeutet hätte. Ein Akkordeon allein genügt nicht. Immerhin gibt Ina Callejas damit den Ton an für ein paar clowneske Zwischenspiele, die Yen Han und Matthew Knight auf wunderbare Weise ausziselieren.
Traumhaft stimmig
Getanzt wird überhaupt traumhaft schön, und das nicht nur von Michelle Willems, die hier als Marie nicht mehr Kind sein muss und noch nicht Frau sein kann. Während sich Giulia Tonelli als Prinzessin Pirlipat ohne Bauchschmerzen, aber mit Humor durchs Ballett beißt, wirft Elena Vostrotina als Tante Schneeflocke so ihre Beine, als wollte sich schon auf ein Ballett von Jacques Offenbach vorbereiten. Auch die pantomimischen, puppenhaften Passagen passen, weil sie eine weitere, parodistische Erzählebene ermöglichen, ganz so wie man das aus dem ganz und gar nicht kindlichen «Kinder-Mährchen» kennt. Am Ende der bejubelten Vorstellung allerdings vermischt, verwischt sich alles, wenn auf der Bühne wie im Zuschauerraum die Lichter angehen und man angesichts eines euphorisierten Publikums schon mal fragen darf: Wir sind nicht alle ein bisschen Theater?
Nussknacker und Mausekönig
Pjotr Tschaikowski
Choreographie: Christian Spuck
Bühnenbild: Rufus Didwiszus
Kostüme: Buki Shiff
Drosselmeiers Neffe: William Moore
Tanzerinen und Tänzer des Ballett Zürich und des Junior Balletts
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